Lebe weiter, Sabinchen! (3)

Was bisher geschah

Lebe weiter, Sabinchen! (3)

Bernd Helmer war zwischenzeitlich zur Beobachtung auf Dr. Schmelzers Station gebracht worden. Zwar hatte er rein äußerlich keinen nennenswerten Schaden von seinem Unfall davongetragen, aber Dr. Schmelzer hatte auf Nummer sicher gehen wollen. Denn oft genug war es noch Tage nach einem Unfall zu Hirnblutungen gekommen. Außerdem war da noch die Sache mit dem Selbstmordverdacht. War Helmer tatsächlich mit Absicht an den Baum gefahren? Und wenn ja, warum?

Es klopfte dreimal kurz an Helmers Zimmertür, dann trat der Professor herein. Bernd Helmer lag auf dem Rücken und starrte an die weiße Zimmerdecke. Ganz so, als wollte er sich in eine Schneewüste hinein verirren, um nie wieder zurückzukehren. Die ganze Welt lag wie zentnerschwerer Schnee auf seiner Seele. Und in dieser trostlosen, weißen Wüste kreisten seine Gedanken und fanden keinen Halt.

„Herr Helmer“, sprach der Professor ihn leise an. Er wußte, daß Bernd Helmer nicht antworten würde. Deshalb nahm er sich einen Stuhl, rückte ihn an das Bett, setzte sich und nahm die Hand des Patienten.

„Wollen Sie mir den Puls fühlen?“, fragte Helmer mürrisch, ohne seinen Blick von der Decke zu wenden.

„Nein“, antwortete der Professor, „Ihr Puls interessiert mich nicht, aber ich spüre, daß Ihnen die Lebenslust abhanden gekommen ist. Deshalb bin ich hier.“

Bernd Helmer lag nur da und starrte zur Decke.

„Herr Helmer“, fuhr der Professor fort, „der Zustand Ihrer kleinen Tochter bereitet Ihnen, wie mir übrigens auch, große Sorgen. Das ist ganz normal. Aber gibt es da noch etwas anderes, was Sie belastet? Über das Sie gerne reden möchten?“

Professor Gabriel sah, wie sich Bernd Helmers Kiefermuskulatur anspannte und seine Mundwinkel zuckten. Er kämpfte gegen die Tränen. Der Professor ahnte, wie düster es in seinem Patienten aussehen mußte, und die Erfahrung lehrte ihn, daß man niemanden zum Reden zwingen konnte. Er stand auf und ging mit vorsichtigen Schritten zur Tür. Dann hörte er ein zaghaftes „Warten Sie“.

Der Professor blieb mit dem Rücken zu Helmer stehen.

„Ich muß zu meiner Tochter, ich muß sie sehen!“, rief dieser sichtlich erregt und richtete sich auf, spürte dann aber ein betäubendes Schwindelgefühl in seinem pochenden Schädel, sodaß er gleich wieder bleischwer zurücksank.

Wegen Sabinchen war er ja schließlich hier. Beistehen hatte er dem kleinen Mädchen wollen und nun brauchte er selber Beistand.

Der Professor empfahl ihm, sich erst einmal den ganzen Kummer von der Seele zu reden, um dann gestärkt und mit positiven Gedanken zu seiner Tochter zu gehen. Ohnehin sei das Kind gerade bei einer isotopischen Untersuchung.

„Wir haben also alle Zeit der Welt“, sagte Prof. Gabriel.

Bernd Helmer nutzte die großzügige Geste des Professors und begann zu erzählen. Schwer lag sein Kopf auf dem weißen Kissen, aber der Professor hielt seine Hand und hörte zu.

„Wissen Sie“, sagte Bernd Helmer, „ich bin ein einfacher Mann und hatte nie besonders viel Glück im Leben. Meine Eltern sind früh gestorben und mit Ach und Krach konnte ich mir eine Ausbildung finanzieren. Als technischer Angestellter arbeitete ich schließlich bei einer größeren Maschinenbau-Firma in Neutraubling. Dort lernte ich Karin kennen…“

„…Sabinchens leibliche Mutter“, ergänzte Professor Gabriel. „Ihre Tochter hat mir schon viel von ihr erzählt.“

„Das glaube ich gern. Das Kind vermißt sie so sehr. Ich werde den Tag nie vergessen, als…“
Bernd Helmer begann zu schluchzen.
„Ach, meine Frau, Sabinchens Mutter! – sie ist jetzt schon fast vier Jahre tot.“
„Sie müssen nicht weiterreden, wenn es Sie allzu sehr quält“, meinte Professor Gabriel“.
Aber Bernd Helmer war im Grunde sehr froh, daß er sich nun endlich einen Ruck gegeben hatte. Und so

fuhr er mit Tränen im Gesicht fort.
„Karin“, sagte er wehmütig, „war ein paar Jahre jünger als ich. Ihr damaliger Freund hatte sie

hochschwanger sitzen lassen. In dieser Zeit verliebten wir uns ineinander und heirateten bald darauf. Mit Leib und Seele war ich nun ihr Mann und sie meine Frau. Und als Sabinchen dann auf die Welt kam, war sie meine Tochter, ohne Wenn und Aber. Ach, könnte ich doch mein Leben geben für ihres, und für das meiner toten Frau…“

Bernd Helmer war kaum in der Lage weiterzusprechen.

Prof. Gabriel wußte aus eigener Erfahrung, wie schmerzlich es ist, die Ehefrau zu verlieren. „Aber“, so sprach er mit großem Einfühlungsvermögen, „es hat keinen Sinn, mit der Vergangenheit zu hadern. Wir müssen sie annehmen als Teil unseres Lebens. Wie ging es denn nach Karins Tod weiter?“

„Nun“, flüsterte Bernd Helmer zögerlich, „Sie haben schon recht. Das Leben ging weiter. Ich kümmerte mich von nun an ganz und gar als alleinsorgender Vater um Sabinchen, lebte von meinen Ersparnissen, und

als Sabinchen in den Kindergarten kam, konnte ich wieder damit beginnen zu arbeiten, wenn auch nur halbtags. Aber für uns zwei reichte es.

Mehr und mehr spürte ich jedoch, daß mir etwas fehlte. Und nicht nur mir. Auch Sabinchen sehnte sich nach einer Mutter.Nach Karins Tod hatte ich mir jedoch keine vielversprechende Zukunft mehr vorstellen können – bis ich eines Tages Britta kennenlernte. Britta! Dieser blondgelockte Engel mit den grünen, großen Augen, der aus heiterem Himmel in mein Leben trat. Sie war mir beim Einkaufen aufgefallen – auf dem Neupfarrplatz, an einem Obststand. Sie hatte Tomaten in eine Tüte gefüllt und war dann auf einem Salatblatt ausgerutscht. Ich bot ihr meine Hilfe an und Britta streckte mir etwas verlegen ihre schlanke, zarte Hand entgegen. Durch meinen Körper ging ein warmes Zucken, ein prickelndes Gefühl, wie ich es lange nicht erlebt hatte. Ich berührte ihre wunderschöne Hand, umfaßte sie mit festem Druck und zog sie hoch. Dann blickten wir uns lange in die Augen. Für mich war sie in diesem Moment die schönste Frau auf Erden. Und obwohl der Anlaß ein kleines, unbedeutendes Mißgeschick gewesen war, hatten wir uns auf wundersame Weise ineinander verliebt. Mir kommt es vor, als wäre es erst gestern gewesen. Ich erinnere mich noch genau an das Glockenspiel, das vom Domplatz her zu hören war… dieses wunderschöne Glockenspiel… und dann kam diese alte Blumenfrau auf uns zu. Sie lachte freundlich und schenkte Britta eine Rose. Ich glaube, die Blumenfrau steht noch immer jede Woche an ihrem Stand gegenüber der alten Wache…“

Bernd Helmer sah den Professor gedankenversunken an und spürte zugleich, daß dieser Arzt Verständnis und Mitgefühl für seine Erzählung zeigte.

„Was soll ich Ihnen erzählen?“, fuhr er fort, „Britta und ich lernten uns näher kennen und zogen recht bald in eine gemeinsame Wohnung in der Lederergasse. Nebenan gab es damals noch so einen kleinen Tante Emma Laden.“

„Klar, den kannte ich auch“, unterbrach ihn der Professor. „Ich erinnere mich sogar noch daran, wie man bei Frau Mutter die Milch mit der Kanne holen konnte. Schade, daß diese kleinen Geschäfte immer weniger werden in der Altstadt. Wird bald alles leer stehen. Aber Sie wollten mir von Britta erzählen.“

„Genau“, erwiderte Bernd Helmer und nahm den Faden wieder auf.

„Also Heiraten kam für Britta nicht in Frage. Sie war damals kaufmännische Angestellte, hatte aber sehr bald damit begonnen, sich außerhalb der Arbeit weiterzubilden. Einmal schwärmte sie sogar davon, bei der Werbeagentur Janda und Roscher einzusteigen und eine Ausbildung als Mediengestalterin zu absolvieren. Mir gefiel ihr Ehrgeiz und wir träumten gemeinsam von den eigenen vier Wänden, einem Garten und von gemeinsamen Kindern. Auch Sabinchen wünschte sich immer ein kleines Geschwisterchen. Aber irgendwann merkte ich, daß Brittas und meine Gedanken anfingen, unterschiedliche Wege zu gehen. Britta wollte plötzlich nichts mehr wissen von eigenen Kindern. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, Karriere zu machen, erfolgreich zu sein auf Biegen und Brechen. Sabinchen konnte da ja nur stören. Was für mich wie eine Offenbarung, ein Geschenk des Himmels war, der größte Schatz, den ich besitze, wurde für Britta immer mehr zu einem lästigen Hindernis auf dem Weg zum Erfolg. Kinder schreien und machen Arbeit, aber der Blick in ihre kleinen glänzenden Augen entschädigt einen doch für alles! Nicht wahr, Herr Professor?“

Bernd Helmer standen die Tränen in den Augen, und auch der Professor war innerlich ergriffen. Er ahnte, wie die Geschichte mit Britta weitergehen würde.

Plötzlich wurde die Tür zu dem Zimmer aufgerissen und Dr. Schmelzer stand da. Zwar schien er äußerlich völlig ruhig zu sein, aber der Professor bemerkte sofort, daß etwas passiert sein mußte. Ein kurzes Heben der Augenbrauen zeigte Schmelzer, daß Prof. Gabriel verstanden hatte. Dr. Schmelzer verließ also den Raum und der Professor wandte sich noch einmal seinem Patienten zu.

„Wissen Sie was, Herr Helmer“, sagte er mit milder Stimme, „schlafen Sie jetzt ein wenig. Morgen werde ich Sie wieder besuchen und dann verraten Sie mir, wie die Geschichte mit Britta weiterging. Einverstanden?“

Bernd Helmer drückte dem Professor die Hand. Er war froh, so etwas wie einen Freund in ihm gefunden zu haben.

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