„Wer wagt es…?“

von Hans Simon Pelanda

‚Gewagt‘ haben Michael Buschheuer und seine Mitstreiter*innen und Helfer von „Second Life“ schon etwas. Verzagt waren sie ganz sicher nicht, als sie das Projekt zur Aufnahme von geflohenen Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten, aus unwürdigen Lagern an den Grenzen Europas begannen. Und angesichts der wahrhaft riesigen Herausforderungen – Menschen aus Elendslagern wie Moria zu ‚befreien‘; EU und europäische Staaten zur Aufnahme von mehr Bedrohten zu drängen; mit Familien, die ihre Heimat und alles verloren haben, ein ‚zweites Leben‘ in Würde zu beginnen – durfte bei manchen zwischenzeitlich schon mal der Mut etwas sinken.

Aber ein „Wagnis“ auf Leben und Tod wie es Schillers „Taucher“ einging!? Existentielle Entscheidungen, oft auch noch für die Frau und die Kinder!? Dieses ‚Wagnis‘ blieb uns bei weitem erspart!

Man ‚wagt‘ es sich gar nicht vorzustellen, was alles passieren musste, ehe sich Familien mit Kleinkindern gezwungen sahen, vor den Bombardements in Afghanistan zu fliehen. Erste Station auf der Flucht waren oft die Nachbarländer, wohin sie als Kinder kamen, Familien gründeten – und dann mit den eigenen Kleinkindern weiter fliehen mussten. Wenigstens hatten sie noch das Farsi verstanden, in einer ähnlichen Welt gelebt aus der sie weitergeschoben wurden, weil der Iran Flüchtlinge angesichts immer unmenschlicherer Sanktionen nicht mehr bei sich aufnehmen konnte. Nur unter nicht mehr zu ertragendem Druck dürften sie sich auf den gefährlichen Weg durch die Kriegsgebiete im Vorderen Orient gewagt haben – und die Hoffnung auf sicheren Schutz in Europa. Es folgten nochmals Monate im ‚muslimischen Bruderland‘ Türkei, die aber trotz EU-Milliarden für das Festsetzen der Flüchtlinge an Europas Grenze diese den lebensgefährlichen Weg übers Wasser auf eine griechische Insel nehmen ließ. Die ‚Rettung‘ im christlichen Abendland: mit Tausenden anderen Schutzsuchenden fanden sie sich in der Hölle von Moria oder ähnlichen Lagern wieder.

Wie einzelne erwachsene Flüchtlinge mussten auch Familien mit 3 oder 4 Kindern Monate oder sogar Jahre in Moria ausharren, gehalten allein von der ungewissen Hoffnung, irgendwann durch einen puren Zufall, durch die Laune einer anonymen ‚Jury‘ oder nach einer Katastrophe wie dem verheerenden Brand im Lager nach Mitteleuropa einreisen zu ‚dürfen‘. Die kühnsten Hoffnungen wurden immer wieder geweckt und dann grausam enttäuscht. Schließlich gelangen ein paar hundert Familien, von den griechischen Behörden als Flüchtlinge anerkannt, in die BRD: exakt 1533 Frauen, Kinder und Männer, 22 davon später nach Regensburg.

Hürden-Stabhoch-Marathon

In dieser neuen‚ allerdings noch nicht olympischen ‚Disziplin‘ müssen traumatisierte, über tausende Kilometer geflohene Familien-‘Teams‘ antreten, um das Ziel „EU“ zu erreichen:

3. März 2021: Friedland

Einreise in Deutschland, im ‚Gelobten Land‘? Nach dem Flug von Lesbos landeten die Eltern mit ihren 4 Kindern in Niedersachsen, dem vorübergehenden ‚Zuhause‘: Die Adresse, Heimkehrerstraße, Friedland, klingt nach Geborgenheit, was nach den Strapazen und der Katastrophe Moria sicherlich auch so empfunden wurde. Allerdings forderte die ‚Produktion‘ eines ganzen Packen von Formularen für jedes Familienmitglied die Eltern in einem Maße, das wir uns in unserer Welt trotz aller Phantasie nur schwer vorstellen können:

15. März 2021: Regensburg

Als letzte der fünf Familien erreicht 4 Tage später auch ‚unsere‘ Regensburg, eine der Sicheren-Hafen-Städte. Man sieht den 6 recht stillen Familienmitgliedern an, dass sie noch viel Zeit brauchen werden, nach 2 Jahren Flucht und Lager wieder in einem nicht eingezäunten Haus mit einer komplett eingerichteten eigenen Wohnung anzukommen. Eine kurze Begrüßung, der Versuch trotz Maske viel Zuversicht und Freundlichkeit zu zeigen – aber gleich die Mitteilung, dass schon am nächsten Morgen, kurz nach 8 Uhr die Eltern zum ersten Termin, sozusagen der nächsten ‚Hürde‘, abgeholt werden.

16. März 2021

Wenn schon wir aufgeregt sind, wie dann erst die beiden, die ohne ein Wort Deutsch oder Englisch schon lange vor 8 Uhr vor der Haustüre warten. Beim Weg zum Bus die ersten „Sprachversuche“, den Namen der Haltestelle und die Busnummer… Dabei übersehen wir, worauf später der Dolmetscher leise hinweist: Das lateinische Alphabet ist weder das einzige noch das meistgebrauchte oder früheste auf der Welt. Die frisch Angekommenen ‚wagten‘ sich also in ein Land, in dem sie nicht nur die Sprache, sondern auch noch die Schrift erwerben müssen. ‚Unser‘ wundervoller Dolmetscher, selbst als ‚Unbegleiteter minderjähriger jugendlicher Flüchtling‘ vor 6 Jahren nach Deutschland gekommen, hat nicht nur die deutsche Sprache hervorragend erlernt, sondern auch eine Lehre zum Koch abgeschlossen; er beweist, man kann in die Gesellschaft gelangen.

Hoffentlich klappt’s bei dieser ‚Hürde‘ einigermaßen! Jedoch: Eine kompetente, dabei sehr kommunikative und vor allem besonders freundliche und hilfsbereite Mitarbeiterin hat alles Notwendige hervorragend vorbereitet, zusammengefasst und erklärt es über dem Dolmetscher so, dass auch wir finden: Das kann man ohne großes ‚Wagnis‘ unterschreiben, auch wenn man nicht nur das letzte Komma erst viel später verstehen wird. Dabei geht es ‚um alles‘, ein ganzes bürgerliches Leben nach unseren Vorgaben: finanzielle Sicherung, verbindliche Anmeldung in der Stadt, obligatorische Krankenkasse, verpflichtender Schulbesuch für die Älteren, einen Kindergartenplatz für das Nesthäkchen, ein schier unerreichbares Bankkonto und eine SIM-Karte fürs Mobile.

Wie schön! Nach dem Behördenmarathon haben die Eltern schon so weit Zutrauen gefasst und ‚wagen‘ uns um den dringend benötigten Wasserkocher für den ab jetzt immer angebotenen Tee, einen Topf in Übergröße für eine 6-köpfiger Familie und Haus-/Badeschuhe zu bitten. Nicht weniger schön und ein ermutigendes Zeichen, dass wir diesen Bitten innerhalb eines Tages mit Hilfe von Nachbarn, Freunden und dem eigenen Keller nachkommen können.

17. März 2021

Trotz einer Marathonstrecke – das Tempo ist eher so hoch wie bei einem Mittelstreckenlauf: Wir sind samt Vater und ältester Tochter bei der Volkshochschule, Koordinationsstelle Schule, angemeldet. Jede Bangigkeit von unserer Seite war unbegründet: Pünktlich warten Vater und Tochter an der Haltestelle, ebenso der bereits von der Familie ‚adoptierte‘ Dolmetscher. Wieder ein gelungener Einstand: Alle erforderlichen Papiere liegen vor und im unangekündigten Deutsch-Test überrascht die 16-Jährige mit einem so guten Ergebnis, dass sie gleich am nächsten Tag in einer Deutschklasse von nicht mehr ‚Nullanfängern‘ beginnen kann. Noch ein-, zweimal will sie im Bus zum Unterricht begleitet werden, erkennt schnell den richtigen Bus und die Haltestellen, so dass ‚unsere‘ Schülerin schon so selbstständig ins Wochenende geht. Leider kann die VHS nicht den für die Kommunikation und die Zusendung der Arbeitsblätter benötigten Laptop bereitstellen, aber bereits am Freitag können wir die Spende einer Freundin – ein Tablet – zum Lernen fürs Wochenende weitergeben. So viele wollen mithelfen, das haben selbst größte Optimisten nicht zu hoffen ‚gewagt‘.

21./22. März 2021

Was feiert man in Deutschland? Was feiert man rund um den Erdball? Wer kennt Feiern und ihre Wertigkeit im Iran oder Afghanistan?

Egal! Wir ‚wagen‘ es, backen einen deutschen Schokoladenkuchen zum Geburtstag für Mutter und ihre jüngste Tochter, stecken die entsprechenden Kerzen auf und klingeln… Am Abend kommt ein Video, auf dem die 4-Jährige tanzt und die Kerzen ausbläst, dazu ein erstes Foto „unserer Familie“.

23. März 2021

Die Hürden müssen übersprungen werden… Die Höhe der Anforderungen variiert je nach Perspektive… Ein Marathon dauert noch…

Schuleinschreibung in der Clermont-Ferrand–Mittelschule im äußeren Westen – gemeinsam überspringen wir auch diese Hürde. Und obwohl die zweitälteste Tochter im Unterschied zu ihrer älteren Schwester in Moria keine Gelegenheit hatte, privat und eigeninitiativ einige Grundkenntnisse des Deutschen zu ihrem Anfänger-Englisch dazuzulernen, wird sie sofort nach den Einschulungsformalitäten in ihre zukünftige Deutschklasse gebracht und lernt in ihren ersten 4 Schultagen in Deutschland schon einfache Sätze zu verstehen und zu sprechen. Schon nach diesen paar Tagen Unterricht bringen die Osterferien eine dringend notwendige Pause!

24. März 2021

Wie haben die anderen Paten ihre Familien bei diesem Marathon ‚angefeuert‘? Welche Tipps können sie uns für unsere Familie beim Meistern der Hürden geben? Wo können wir mit anderen kooperieren?

Ein Treffen der Paten und Unterstützerinnen als Zoom-Meeting dauert fast doppelt so lange wie geplant; schon daraus lässt sich die Wichtigkeit solcher Treffen auch zukünftig begründen – am Anfang sollten die vielfältigen Anregungen von anderen nicht abschrecken, sondern ermutigen: Das ‚Wagnis‘ lohnt sich…

26. März 2021

Unsere letzte Einschulung? Der Sohn der Familie, der als 9-Jähriger im Unterschied zu seinen älteren Schwestern noch nie eine Schule besuchen konnte, stellt sich in einer Grundschule mit Deutsch-Sprachklassen vor. Und wie erwartet zeigt der Test seiner Schulfähigkeit, dass er erste Vorstellungen zu Mengen und Zahlen erst entwickeln, die Buchstaben der lateinischen Schrift ganz neu lernen muss. Aber der Rektor kümmert sich selbst darum, dass er gleich mit einem i-Pad samt Lernprogramm und zusätzlich mit Lernheften und Arbeitsblättern bepackt in die Ferien entlassen wird. Eine Menge Arbeit, nicht wenige Hürden… Da muss er die 2 Wochen nomineller Ferien – auch mit Unterstützung – fleißig nützen, um die vielen Aufgaben bis zum ungewissen Schulbeginn erledigt zu haben!

Die ersten 12 Tage der Familie, bei Second Life, bei den Patinnen und Paten…

Ihr Fazit – unser Fazit. Ihre Leistungen – unsere Hilfen. Ihre Hoffnungen, Wünsche, Träume – unsere Aufmerksamkeit, unser Verständnis, unser Verstehen?

Noch lässt sich nichts bilanzieren; wann lässt sich von einem „Second Life“ sprechen? Wer wird mehr Überraschungen erleben, wenn wir alle uns irgendwann in einer gemeinsamen Sprache über unsere Empfindungen und Gedanken der ersten (12) Tage austauschen werden?

Im Marathon sind die ersten Kilometer geschafft, neue Hürden – Bank, Jobcenter, Integrationskurse u.v.m. – werden zu überwinden sein, aber schon jetzt hat ein Höhenflug begonnen… Ganz sicher!

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