Lebe weiter, Sabinchen! (5)

Was bisher geschah

Lebe weiter, Sabinchen! (5)

Sabinchen saß in ihrem weißen Kinderbettchen und malte. Sie hatte sich ihren großen Zeichenblock aus dem Schrank geholt und sich eine Vielzahl bunter Stifte zurechtgelegt. An den Krankenhausalltag hatte sie sich ja längst gewöhnt und vom Ernst ihrer Lage konnte sie sich keine Vorstellung machen. Für das kleine Mädchen war es ein Tag wie jeder andere.

Nur, daß der Papa noch nicht gekommen war, um sie zu besuchen, gab ihr zu denken. Er hatte es doch mit einem großen Indianerehrenwort versprochen! Wahrscheinlich war es doch eine größere Autopanne, dachte sie, und Papa hat das Auto zur Werkstatt bringen müssen. Das Auto war ja immerhin schon sehr alt und sie hatte ihren Vater öfter sagen hören: „Wenn wir es uns leisten können, dann kaufen wir uns einen richtigen Luxuswagen.“

„Aber grün muß er sein“, hatte sie darauf geantwortet, „denn grün ist die Farbe der Hoffnung. Stimmt’s, Papa?“

Sabinchen war ein Kind, das aus jeder Situation das Beste machen konnte. Als Britta Anfang Dezember zu ihrer Freundin Heike nach Berlin gefahren war, um einen Manager-Kurs zu besuchen, hatte Sabinchen sehr gelacht. Denn es hatte sie gewundert, daß auch Erwachsene noch zur Schule gehen mußten. Britta war dann aber nicht schon nach einer Woche zurückgekehrt, wie eigentlich besprochen. Stattdessen war sie bei ihrer Freundin Heike in Berlin geblieben und hatte sich zwischenzeitlich mehrmals telefonisch gemeldet.

Ach, dachte Sabinchen, ich bin weg, im Krankenhaus, also darf die Britta auch weg sein. Aber da nun auch ihr Vater noch auf sich warten ließ, nahm Sabinchen einen der Buntstifte in ihre kleine Hand und begann ihn zu malen. Gut sollte er aussehen und im Garten stehen vor einem großen Haus. Daneben wollte sie eine Garage malen mit einem schönen grünen Auto. Und im Hintergrund sollte man den Regensburger Dom sehen mit seinen lustigen spitzen Türmen.

Kaum hatte Sabinchen damit begonnen, ein paar bunte Kreise, Vierecke und Striche auf das Papier zu malen, da klopfte es an die Tür.

„Herein, wenn es kein Drache ist“, rief Sabinchen verschmitzt und betrachtete neugierig die zierliche Krankenschwester, die das Zimmer betrat.

„Hallo Sabinchen“, sagte sie, „ich bin kein Drache, sondern die neue Schwester. Sag einfach Susi zu mir.“ Sabinchen betrachtete sich die neue Schwester kurz und dachte nach. Dann sagte sie unvermittelt:

„Du bist Susi Leitner, stimmt’s?“
Die Krankenschwester stand etwas verdutzt da. Woher konnte Sabinchen ihren Namen wissen, da sie doch heute ihren ersten Tag in der Donauklinik hatte? Sabinchen aber holte ein dickes Album aus ihrem Nachttisch und bat Susi, sich neben sie auf das Bett zu setzen.

„Du kannst mich doch gar nicht kennen“, sagte Susi mit einer angenehm klingenden Stimme.

„Doch, doch“, ereiferte sich Sabinchen, „ich kenne dich wohl. Du bist Susi Leitner und warst mit Papa in der Schule. Hier ist das Foto.“

Sie zeigte auf ein Foto in dem dicken Album, welches ihr Vater ihr ins Krankenhaus mitgegeben hatte. Denn sie hatte es sich so sehr gewünscht, ihre Familie und Freunde immer bei sich zu haben.

Susi staunte nicht schlecht, als sie sich nun tatsächlich auf dem Foto wiedererkannte. Es war das Bild der Abschlußklasse, damals in der Albert-Schweitzer-Realschule.

Tatsächlich waren Bernd Helmer und sie Klassenkameraden gewesen. Sabinchen lachte:
„Ich wußte es, ich wußte es!“, rief sie voller Freude.
„Aber warum hast du dir ausgerechnet meinen Namen gemerkt?“
„Das ist doch ganz einfach“, entgegnete Sabinchen pfiffig. „Ich habe Papa mal gefragt, wer ihm auf dem

Foto denn am besten gefällt. Und da hat er gesagt: die da, das ist die Schönste, Susi Leitner.“
Schwester Susi erinnerte sich. Gleich nach ihrer Ausbildung zur Krankenschwester war sie dem Schulfreund Bernd wieder begegnet. Sie war damals öfter mit ihm ausgegangen, in eines der schönen

Altstadtkinos oder im Winter zum Schlittschuhlaufen ins alte Eisstadion.
Manchmal waren sie auch Hand in Hand durch den Villapark geschlendert und waren dann bis zur

Steinernen Brücke an der Donau entlang spaziert. Ein paar Mal hatten sie sich sogar einen romantischen Abend im Orpheé gegönnt, hatten Crêpes gegessen und „Blutendes Herz“…

Susi und Bernd waren damals sehr verliebt gewesen. Doch dann hatte Susi Regensburg verlassen müssen. Ihr Vater war plötzlich sehr krank geworden und sie war nach Göttingen gezogen, um ihn zu pflegen. Bernd hatte damals noch in der Ausbildung gesteckt, und so war es gekommen, daß sich die beiden jungen Leute nach einiger Zeit aus den Augen verloren hatten. Irgendwann hatte Susi von einer Freundin erfahren, daß Bernd geheiratet habe…

Schwester Susi merkte, daß jemand sie in den Arm zwickte.
„Aufwachen“, flüsterte Sabinchen und Schwester Susi wurde klar, daß sie wohl kurze Zeit geträumt hatte. Sabinchen lachte und Susi war nun leicht rot geworden. Aber Sabinchens Lachen war so ansteckend, daß

auch Susi zu lachen begann.
Plötzlich jedoch verstummte Sa-binchen. Wie aus heiterem Himmel war sie ganz blaß geworden.
„Mir wird so komisch“, keuchte sie halb ohnmächtig und sackte in sich zusammen.
„Sabinchen, Sabinchen“, redete Susi eindringlich auf das Kind ein. Doch das kleine Mädchen nahm ihr

Gegenüber nur noch verschwommen wahr. Gerade so, als hätte sie irgendeine böse Fee in Nebel gehüllt. Susis Worte drangen kaum mehr zu ihr durch. Ganz weit weg schien alles zu sein, die Welt verschwamm vor ihren Augen.

„Sabinchen“, wiederholte Schwester Susi nun etwas lauter und gab dem Kind einen Klaps auf die Wange. Dann hauchte das kleine Mädchen kaum hörbar:

„Ich kann dich nicht hören, alles still, alles still…“
Kurz darauf verlor sie das Bewußtsein.
Schwester Susi reagierte besonnen, versicherte sich, ob der Puls noch deutlich zu spüren war, und kippte

das kleine Kinderbett, sodaß Sabinchens Kopf nach unten hing. Das würde den Kreislauf wieder in Schwung bringen.

In diesem Moment wurde die Zimmertür aufgestoßen und Bernd Helmer trat herein.
„Was haben Sie mit meinem Kind gemacht?“, donnerte er und stürzte auf seine Tochter zu.
„Nichts“, brachte die eingeschüchterte Schwester kleinlaut hervor, „das Kind ist plötzlich ohnmächtig

geworden. Gerade wollte ich den diensthabenden Arzt rufen, Dr. Schmelzer!“
„Dann tun Sie das gefälligst!“, schrie Bernd Helmer sie an, „und verlieren Sie keine Zeit!“
Schwester Susi rannte aus dem Zimmer. Sie wollte gerade ins Schwesternzimmer, um Dr. Schmelzer per

Telefon zu verständigen, als dieser in Begleitung von Prof. Gabriel die Kinderstation betrat.
„Gut, daß sie hier sind“, rief Susi atemlos, „Sabinchen ist ohnmächtig geworden und ihr Vater ist schier am

Ausrasten.“
„Aha“, beruhigte sie Prof. Gabriel, „da geht es also gleich rund an Ihrem ersten Tag in der Donauklinik.

Aber keine Sorge, das kriegen wir alles in den Griff. Machen Sie bitte gleich eine Elektrolyt-Infusion fertig.“ Die beiden Mediziner betraten das Krankenzimmer und sahen, daß Sabinchen schon wieder bei Bewußtsein war. Ihr Vater saß bei ihr und hielt ihre Hand. Auf dem Boden lagen einige Buntstifte sowie das halbfertige Bild. Professor Gabriel bückte sich und hob den Zeichenblock auf. Interessiert besah er sich das

Kunstwerk, dann schmunzelte er Sabinchen zu.
„Schön hast du das gemalt“, sagte er mit ruhiger und sanfter Stimme.
„Ach ja“, erwiderte Sabinchen schwach, „es ist ja noch gar nicht fertig!“
„Aber ich erkenne deutlich, daß hier ein Haus stehen soll, wahrscheinlich mit einem großen Garten. Und

daneben, das wird bestimmt ein Auto.“
„Ein grünes“, ergänzte Sabinchen und lachte den Professor an.
Schwester Susi kam nun mit der Infusion, und diese Gelegenheit be- nutzte Dr. Schmelzer, Bernd Helmer

zu einem Gespräch in sein Arztzimmer zu bitten. Helmer hatte noch seinen gestreiften Schlafanzug an. Darüber hatte er sich offensichtlich in aller Eile einen Morgenmantel gehängt.

„Kommen Sie“, sagte Dr. Schmelzer und tippte Bernd Helmer auf die Schulter, „der Professor wird noch ein bißchen hier bleiben bei Ihrer Tochter und wir beide sollten vielleicht ein paar Takte über Ihren Unfall sprechen. Außerdem wollen wir Schwester Susi doch nicht im Weg stehen.“

Bernd Helmer folgte Dr. Schmelzer, der schon ein paar Schritte vorausgegangen war, blieb aber bei der Tür stehen und wandte sich entschuldigend an Schwester Susi:

„Es tut mir leid, wenn ich vorhin etwas überreagiert habe, aber ich bin wirklich etwas durch den Wind
 im Moment, weil…“ – er stockte.

War das nicht Susi Leitner, die ihm da gegenüberstand und die er vor zehn Minuten so heftig angeredet hatte? Seine Gedanken schienen sich zu überschlagen.

„Susi Leitner…Susi Lei…merkwürdig. Irgendwoher kennen wir uns doch“, murmelte er halblaut vor sich hin und sah etwas verlegen zu seinen Pantoffeln hinunter. Aber bevor Schwester Susi etwas antworten konnte, rief Sabinchen:

„Klar kennst du sie. Sie hat Dir doch am besten gefallen in der 
Klasse.“

Schwester Susi errötete wieder ganz leicht, machte sich aber sogleich daran, die Infusion mit der Elektrolytlösung an die Kanüle in Sabinchens Arm anzuschließen.

„Kommen Sie mit, Herr Helmer“, sagte Dr. Schmelzer, der schon etwas ungeduldig in der Tür wartete.

Bernd Helmer und der Doktor machten sich nun auf den Weg, und Prof. Gabriel rief ihnen scherzhaft hinterher, daß man das Klassentreffen eben verschieben müsse. Sabinchen kicherte hinter vorgehaltener Hand.

„Hat da jemand hinter meinem Rücken gelacht“, fragte der Professor spitz und ließ die kleine Patientin mit Schwester Susi allein.

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