Lebe weiter, Sabinchen! (2)

Was bisher geschah

Lebe weiter, Sabinchen! (2)

Das Personal der Donauklinik traf sich zum Mittagessen in der hellen und freundlichen Kantine, die von Schwester Erika vorbildlich geführt wurde. In der Weihnachtszeit ließ sie in der Mitte des Raumes stets eine große Tanne aufstellen, die von Schwestern, Pflegern und Ärzten in einer gemeinsamen Aktion festlich geschmückt wurde.
Für Prof. Gabriel und seine Kollegen war das Mittagessen stets eine willkommene Erholung im harten Klinikalltag, der die Ärzte oft an die Grenzen ihrer Belastbarkeit führte, und manchmal sogar über diese Grenzen hinaus.
Natürlich war die Kantine auch Plattform für allerhand Regensburger Klatsch und Tratsch.
Heute saß der Chefarzt auf seinem Lieblingsplatz, von wo aus er den alten Nußbaum sehen konnte, der vor dem großen Fenster stand und der im Laufe der Jahre fast so etwas wie ein lieber Kollege geworden war.
Draußen war es bitterkalt und eine leichte Schneedecke hatte sich über die Äste des riesigen Baumes gelegt. Sie blitzte und funkelte in der Mittagssonne. Zaghaft fielen auch ein paar Sonnenstrahlen durch die großen Fensterscheiben des noblen Speisesaals hindurch und spielten um die grauen Schläfen Prof. Gabriels, der hinabblickte auf das romantische Donautal. Leichte Nebelschwaden zogen über den Fluß. Vereinzelt sah man Donauschiffer ihre Fracht auf schweren Kähnen transportieren, und in der Ferne konnte man die Säulen der Walhalla erkennen, die majestätisch über dem Oberpfälzer Land thronte.

Prof. Gabriel schaute auf die Uhr. „Das ist doch nicht zu fassen“, murmelte er vor sich hin. „Wo bleibt denn dieser Schmelzer?“ Ungeduldig rief er Schwester Erika zu sich.
„Sagen Sie mal, Schwester“, wollte er wissen, „hat sich denn Dr. Schmelzer von der Kantinenliste streichen lassen?“
„Nein, das hat er nicht!“, antwortete Schwester Erika pikiert. „Aber Schwester Helga hat ihn vor einer viertel Stunde wegfahren sehen. Wahrscheinlich wieder mal zu seinem Freund Frank. Da wird es ihm wohl besser schmecken als bei mir.“
„Bei McDonald‘s?“, rief der Professor überrascht aus.
„Ja, bei Mcdonald’s. Und wissen Sie, wen er mitgenommen hat?“
„Nein, wen denn?“
„Die junge Dr. Berger. Sie wissen schon, die von der Uniklinik.“
„Na, da schau an“, raunzte der Professor. Dann wandte er sich beschwichtigend an Schwester Erika und sagte:
„Wissen Sie, von mir aus kann Dr. Schmelzer auswärts essen soviel er mag. Aber ich lasse über Ihren Schweinsbraten mit Dunkelbiersoße nichts kommen. Ein Narr, wer sich den entgehen läßt.“
„Es kommt natürlich auch sehr auf die Fleischqualität an“, ereiferte sich Schwester Erika und fügte hinzu: „Ich verlasse mich da schon seit Jahren auf Dollmann, ob in der Kantine oder bei den Patientenessen.“
„Ja, ja, der gute Hans Dollmann, den müßte ich auch mal wieder anrufen!“
„Anrufen?“
„Ja, anrufen!“
„Aber Herr Professor“, erwiderte Schwester Erika verwundert, „Sie haben doch weiß Gott genug zu tun. Wollen Sie sich jetzt auch noch um den Fleischeinkauf kümmern?“
„Nein, nein, liebe Schwester“, beruhigte sie Prof. Gabriel, „ich werde doch nicht in Ihr Hoheitsgebiet eindringen. Der Dollmann Hans ist ein alter Jägerkamerad von mir und letzte Woche habe ich eine Einladung zur Treibjagd bekommen. Die möchte ich gern an ihn weiterleiten. Denn er ist nicht nur ein guter Metzger, sondern auch ein hervorragender Waidmann.“

Plötzlich schaltete sich Lernschwester Bibi in die Unterhaltung ein. Sie saß am Nachbartisch und hatte ihre Öhrchen gespitzt.

„Habe ich da gerade ‚Dollmann‘ gehört?“, fragte sie amüsiert.
Schwester Erika sah sie streng an:
„Was geht denn Sie der Metzgermeister an?“
„Ooch, nichts!“, erwiderte Bibi keß, „ich habe ihn nur mal im Fernsehen gesehen, in so einer komischen Sendung.“
„Richtig, das habe ich auch gesehen“, erinnerte sich Schwester Erika. „War das nicht bei Günther Jauch? Da ging es doch darum, wer die knackigsten Würste macht. Und die vom Dollmann waren am besten!“
„Kann sein!“, gab Bibi kokett zurück.
„Tja, da können Sie mal wieder sehen, was für berühmte Leute wir in unserer Stadt haben, nicht wahr?“

Schwester Erika hatte sich mit diesen Worten erneut zu dem Professor gedreht.

„Schmeckt denn der Schweinsbraten, Herr Professor“, erkundigte sie sich eilfertig.
„Hervorragend, wirklich ganz her- vorragend! Sie haben sich mal wieder selbst übertroffen!“
Schwester Erika fühlte sich geschmeichelt. „Ach, wenn Sie meinen“, sagte sie etwas verlegen und bewegte sich tänzelnd in Richtung Küche.

Wenig später erschien Dr. Schmelzer und setzte sich an den Tisch des Professors. Sein Gesichtsausdruck entsprach einer Mischung aus Lachen und Weinen.

„Na, Herr Kollege“, witzelte Prof. Gabriel, „war die kleine Spritztour mit Frau Dr. Berger denn ein Erfolg?“
„Mhh“, murmelte Schmelzer, „ich liebe sie!“
„Was haben Sie da gerade gesagt? Sie lieben sie? Aber Sie haben sie doch erst vor ein paar Tagen kennengelernt. Verwechseln Sie da nicht Liebe mit Verliebtsein?“
Dr. Schmelzer schaute etwas verwirrt. „Sagte ich: ‚ich liebe sie‘?“
„Ja, das habe ich so verstanden!“
„Ohh“, verbesserte sich Dr. Schmelzer lächelnd, „ich meinte natürlich: ‚ich liebe es‘ – ‚es‘, nicht ‚sie‘!“
„Na, dann bin ich aber beruhigt!“, lachte Prof. Gabriel und fügte verschmitzt hinzu: „Kopf hoch, Schmelzer, das wird schon noch was mit der Kollegin. Allerdings sollten Sie eine Dame auch mal etwas stilvoller ausführen. Davon abgesehen: legt sie denn keinen Wert auf gesunde Ernährung?“
„Logisch tut sie das. Sie steht auf Hühnchen und Salat, und genau das haben wir heute gegessen, sogar deluxe!“
„Tja, eins zu null für Sie!“
„Leider nicht, Herr Professor. Denn ich fürchte, Sie steht zwar auf Fast Food, aber nicht auf mich.“
„Sie steht nicht auf Sie? Das kann ich mir ja gar nicht vorstellen!“ Der Professor legte die Stirn in Falten und meinte grinsend: „Schauen wir mal, was sich da machen läßt.“
„Gar nichts kann man da machen!“, schimpfte Dr. Schmelzer, „sie will sich in nächster Zeit nicht mehr mit mir treffen.“
„Abwarten, Herr Kollege, abwarten!“, sagte Prof. Gabriel. Dann wandte er sich wieder seinem Schweinebraten zu.

Plötzlich jedoch hielt er inne. Er schüttelte den Kopf und starrte brütend aus dem Fenster.

„Sabinchen?“, fragte Schmelzer besorgt, „ist das kleine Mädchen denn nicht mehr zu retten?“
Der Professor reagierte nicht.
„Was ist mit dem Herzstillstand auf der Vier?“, fragte Schmelzer weiter und hoffte, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

Prof. Gabriel faßte sich an die Stirn, schloß die Augen für einen kurzen Moment, dann drehte er sich um.

„War nichts mehr zu machen“, sagte er leise.
„Tja, auch unserer Kunst sind Grenzen gesetzt. Ich bin sicher, Sie haben alles nur Menschenmögliche getan.“

„Das Menschenmögliche, das Menschenschenmögliche“, wiederholte Prof. Gabriel nachdenklich. Er wußte, daß er alles getan hatte, was in seiner Macht stand. Aber er wußte auch, daß für viele schwerkranke Patienten in seiner Klinik das Menschenmögliche nicht ausreichte. Sie wollten leben und setzten ihre ganze Hoffnung auf die Medizin.
„Sind denn die Angehörigen schon informiert?“
„Ja“, antwortete der Professor, „seine Frau war vorhin da. Sie war sehr gefaßt. Ihr Mann hatte wohl schon seit Wochen gespürt, daß es mit ihm zu Ende ging. Er hat auch mir gegenüber mal so etwas erwähnt.“
„Kannten Sie den Verstorbenen denn persönlich?“
„Ach“, sagte der Professor grüblerisch, „ich traf ihn ab und zu an unserem Stammtisch. Er war ein Spezl meines Freundes Theo…“
„Vonderweiden?“
„Ja, der Mann von der Gothaer, Gothaer Versicherungen. Ich habe früher öfter Tennis mit ihm gespielt.“
„Klar, ich kenne ihn“, unterbrach Schmelzer den Professor, „schließlich bin ich ja einer seiner besten Kunden. Im Fitness-Studio begegnet er mir ebenfalls gelegentlich. Aber ich wollte Sie nicht unterbrechen. Sie sprachen gerade von dem Herzstillstand.“

Professor Gabriel erzählte also weiter.

„Unser Verstorbener“, sagte er schmunzelnd, „war einer der besten Witzeerzähler, die ich kenne. Immer zu einer Gaudi aufgelegt, der Gassner Franz. Theo mußte sich teilweise schütteln vor Lachen. Die beiden kannten sich schon sehr lange. Glücklicherweise hatte Theo ihm schon vor etlichen Jahren zu einer guten Lebensversicherung geraten. Der Verstorbene konnte also sicher sein, daß seine Hinterbliebenen jetzt ausreichend versorgt sein würden. So durfte er in Frieden Abschied nehmen.“

„Das ist schön“, sagte Dr. Schmelzer mit ernster Miene. Dann fügte er abschließend hinzu: „Sollten Sie Herrn Vonderweiden demnächst mal wieder treffen, bestellen Sie ihm bitte schöne Grüße von mir!“

„Mach ich, mach ich“, murmelte der Professor abwesend. Er war für kurze Zeit in die düsteren Tiefen seiner Gedanken abgetaucht und erschrak ein wenig, als Dr. Schmelzer ihn darum bat, sich nach der Mittagspause Sabinchens Vater, den Patienten Helmer anzuschauen. Er hätte da so eine Ahnung.

Der Professor stand auf und verließ wortlos die Kantine.

„Herr Professor“, rief ihm Schwester Erika hinterher, „Sie haben ihre Nachspeise ja gar nicht angerührt!“

Da muß ihm aber eine gewaltige Laus über die Leber gelaufen sein, dachte sie und machte sich wieder an die Arbeit.

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