58 Jahre Brücke: Der deutsch-französische Freundschaftsvertrag – eine Erfolgsgeschichte!

von Prof. Dr. Jochen Mecke, Lehrstuhl für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Regensburg mit Schwerpunkt Frankreich und Spanien

Die Bilder sind später berühmt geworden: Als Charles de Gaulle und Konrad Adenauer am 22. Januar 1963 den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag, auch Elysee-Vertrag genannt, unterzeichneten, kam es zu einer jener vielen deutsch-französischen Missverständnisse, die lange Zeit das Verhältnis zwischen den beiden Nationen geprägt hatten. Nachdem der französische Präsident eine bewegende Rede gehalten und Konrad Adenauer sich damit begnügte hatte, sich seinem Vorredner voll und ganz anzuschließen, bereitete De Gaulle auch schon seine Arme aus und bewegte sich auf Konrad Adenauer zu, der – wie man auf den Archivbildern deutlich sieht – etwas erschrocken zurückwich, bis ein geistesgegenwärtiger Protokollbeamter ihn dezidiert auf De Gaulle zuschob und beide sich den Regeln der französischen Akkolade entsprechend in die Arme nahmen. Als Adenauer, sichtlich von der de Gaulles emotionaler Geste bewegt, seine Hand noch ausgestreckt hält, um einen kräftigen Händedruck mit seinem französischen Kollegen auszutauschen, was in seiner Generation der höchste Ausdruck der Sympathiebekundung unter Männern war, ist de Gaulle bereits zurückgewichen und Adenauers Hand greift ins Leere. Manchmal sagen Bilder bekanntlich mehr als 1000 Worte. Und hier bringen die Filmbilder ganze Jahrhunderte deutsch-französischer Beziehungen auf den Punkt. Sie sagen, das Deutsche und Franzosen eigentlich immer dasselbe wollten, allerdings fast nie zum selben Zeitpunkt und immer mit anderen Mitteln. Als die Franzosen Frieden wollten, rüsteten die Deutschen für den Krieg, als die deutschen Pazifisten geworden waren, setzten die Franzosen auf ihre Atommacht. Das gilt übrigens auch für die Absichten, die beide Nationen mit dem Vertrag verbanden, denn sie waren durchaus von unterschiedlichen Interessen geprägt. Während es Frankreich vor allem darauf ankam, Europa aus der Vorherrschaft der Amerikaner zu lösen und einen Keil zwischen die USA und Deutschland zu treiben, war es Deutschland vor allem darum zu tun, Frankreich in ein multilaterales internationales Geflecht von Verträgen einzubinden. Dies führte dazu, dass der Deutsche Bundestag den Vertrag mit einer Präambel ratifizierte, die bereits kurz nach der Unterzeichnung für Unstimmigkeiten zwischen den beiden Ländern sorgte, rief sie doch Frankreich und Deutschland zu einer engeren Zusammenarbeit mit den USA und zur Aufnahme Großbritanniens in die europäische Wirtschaftsgemeinschaft auf.

Urschrift des Vertrags über die deutsch-französische Zusammenarbeit (Elysée-Vertrag) vom 22. Januar 1963. Unterzeichner sind Bundeskanzler Konrad Adenauer, Frankreichs Staatspräsident Charles de Gaulle, der Bundesminister des Auswärtigen, Gerhard Schröder, Frankreichs Premierminister Georges Pompidou und der französische Außenminister Maurice Couve de Murville

Die großen Hoffnungen, die de Gaulle in die Deutschen und den Vertrag gesetzt hatten wurden also sofort enttäuscht. Und dennoch war vielleicht kein Freundschaftsvertrag für die Entwicklung Europas bedeutender und hatte langfristigere Folgen als der Elysee-Vertrag, denn er legte die Grundlage zu einer lang andauernden intensiven deutsch-französischen Konsultation und Kooperation, die ihre konsequente Fortsetzung später in regelmäßigen gemeinsamen Sitzungen deutscher und französischer Ministerien, des deutschen und des französischen Kabinetts, in der später wieder aufgegebenen Idee einer doppelten Staatsbürgerschaft und seinen krönenden Abschluss 56 Jahre später, am zweiten 20. Januar 2019, in der feierlichen Unterzeichnung des Vertrags von Aachen im Krönungssaal des Aachener Rathauses fand.

Trotz aller Unterschiede der jeweiligen Interessen auf französischer und deutscher Seite gab es allerdings ein Motiv, das beide Nationen nach den grausamen Erfahrungen des Ersten und vor allem Zweiten Weltkrieges prägte: „Nie wieder Krieg in Europa!“ … und vor allem nicht zwischen Deutschland und Frankreich lautete die Devise, die über die beiden Nationen links und rechts des Rheins hinaus eine ungeheure Dynamik zum Zusammenwachsen Europas entfaltete. Und weil die beteiligten Nationen wussten, dass gute Absichten allein nicht ausreichen um Kriege zu verhindern, koppelten Sie diese mit konkreten wirtschaftlichen Interessen, die alle beteiligten europäischen Nationen in ein eng verflochtenes Netz wechselseitiger ökonomischer Kooperation und Abhängigkeit einband, die sogenannte Montanunion, die dann im Jahre 1957 zur Gründung der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) führte. Am Anfang stand, wie so oft, eine Vision, die Vision eines Franzosen, nämlich des französischen Außenministers Robert Schumann die in enger Zusammenarbeit zwischen ihm und dem deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer, für die Gründung der ersten supranationalen Organisation überhaupt sorgte. Die bestechende Idee hinter dieser ersten Errungenschaft der neuen deutsch-französischen Freundschaft – gerade mal sechs Jahre nach dem Ende des Krieges: Keine europäische Nation sollte gegen eine andere Krieg führen können, ohne den eigenen wirtschaftlichen Interessen massiv zu schaden.

Der kurze Rückblick zeigt, dass der Motor für all dies und damit auch für die europäische Union die deutsch-französische Freundschaft war. Liest man allerdings die Presseverlautbarungen der letzten zwei Jahrzehnte aufmerksam durch, so findet man ein wahres Feld von Metaphern, das diesen Motor zumeist mit negativen Vorzeichen versieht: Der deutsch-französische Motor Europas sei ins Stocken geraten, er stottere beträchtlich, ihm sei gar das Benzin ausgegangen oder er sei gänzlich zum Erliegen gekommen. Nichts ist falscher als das! Natürlich hat es immer wieder Differenzen gegeben zwischen beiden Nationen. So hatte der damalige französische Präsident François Mitterrand etwa starke Bedenken gegen die deutsche Wiedervereinigung, die Deutschen hingegen waren skeptisch bei der von Frankreich forcierten Einführung des Euro. Überhaupt unterscheidet sich die französische Auffassung vom Staat und dessen Verhältnis zur Wirtschaft grundlegend von der deutschen und auch die politischen Kulturen beider Länder könnten unterschiedlicher nicht sein. In den politischen Kommentaren werden diese Differenzen meist als „Problem“ betrachtet, eine Überzeugung, die sich fast in allen Standardwerken über die Kommunikation zwischen unterschiedlichen Kulturen wiederfindet. Schenkt man dieser Auffassung Glauben, so bedeutet der Kontakt zwischen zwei unterschiedlichen Nationen oder Kulturen immer ein Problem. Aber in Wahrheit ist gerade das Gegenteil ist der Fall. Das gilt bereit für die konkrete Alltagserfahrung der meisten Deutschen und Franzosen: Deutsche suchen und genießen den kleinen Unterschied der französischen Kultur, wenn sie ihren Urlaub in Frankreich verbringen und inzwischen gilt dies auch für die Franzosen, die Deutschland besuchen. Unter jungen Franzosen ist Berlin nach wie vor die Stadt, in der alle mal gewesen sein und gelebt haben wollen. Und auch in der Geschichte der Europäischen Union und ihrer Vorformen haben deutsch-französische Unterschiede immer wieder für die nötige Dynamik der europäischen Weiterentwicklung gesorgt. Frankreich ist anders, Deutschland auch. Und das ist auch gut so! Es ist gut so, dass der französische Präsident Emmanuel Macron trotz aller Enttäuschungen nicht müde wird, neue zukunftsweisende Visionen für Europa zu entwickeln und es ist gut so, dass die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ihren französischen Kollegen immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholt. So haben französische Visionäre und deutsche Pragmatiker (siehe oben) immer wieder die gegensätzlichen Pole eines fruchtbaren Spannungsgefüges gebildet, an dem sich der Funke europäischer Dynamik jeweils neu entzünden und auf andere Nationen überspringen konnte. Die Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich sind nicht das Problem sondern die Lösung! Sie sorgen für einen Schwung, von dem ganz Europa profitiert. Ohne sie wäre wohl die Brüsseler Einigung im Juni letzten Jahres nicht möglich gewesen, die das Überleben zahlreicher Unternehmen und auch einiger Nationen in Europa gesichert hat. Die Vision kollektiver Schulden der europäischen Nationen stammte aus Frankreich, für die konkrete Durchführung zeichnete allerdings vor allem deutscher Pragmatismus und deutsches Verhandlungsgeschick verantwortlich. Vielleicht wussten die Regierungschefs in Brüssel nicht genau was sie da taten, denn möglicherweise geht der Brüsseler Beschluss weit über die Behebung eines finanziellen Problems hinaus und ist ein erster Schritt zu einer europäischen Einigung. Falls das geschehen sollte, war die deutsch-französische Freundschaft die Bedingung für die Entstehung der Vereinigten Staaten von Europa. Aber selbst wenn diese Vision nicht eintreten sollte, ist sie durch die bisherigen Ergebnisse vor der Geschichte gerechtfertigt und damit auch der Vertrag, der vor 58 Jahren in Paris unterzeichnet wurde. Darüber hinaus lässt sich aus der bewegten Geschichte der deutsch-französischen Freundschaft in den letzten 75 Jahren noch etwas ableiten: Nationale und kulturelle Unterschiede sind Chancen, denn sie erlauben es vom anderen zu lernen, wenn sich die eigenen Lösungsvorschläge im Ideenkäfig traditioneller Lösungen festgefahren haben und sie stellen die Voraussetzung für jenen Dissens und jenen Dialog dar, ohne die Demokratien nicht existieren können. Sie sind die beiden Widerlager oder Pfeiler, mit denen sich Brücken zwischen Nationen bauen lassen.

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