Lebe weiter, Sabinchen! (8)

Was bisher geschah

Lebe weiter, Sabinchen! (8)

Während sich Prof. Gabriel auf dem Weg zu seinem Büro so allerhand Gedanken durch den Kopf gehen ließ, kam ihm Lernschwester Bibi entgegen. Sie hatte heute zum ersten Mal Nachtschicht und war deshalb entsprechend aufgeregt. Außerdem hatte sie die Aufgabe erhalten, einen Neuzugang aufzunehmen. Das heißt, sie mußte Namen und Wohnort eintragen, Gewicht und Größe sowie Blutdruck, Körpertemperatur und noch ein paar andere Dinge.

„Herr Professor“, gluckste Bibi aufgeregt, „wir haben eine neue Patientin bekommen. Und die möchte Sie unbedingt gleich sprechen. Stationsarzt Dr. Penninger hat zwar bereits nach ihr gesehen, aber Frau Gruber wollte unbedingt den Chefarzt persönlich kennenlernen. Sie ist über achtzig und hat schon so viel von Ihnen gehört. Jetzt dachte sich Frau Gruber eben…“

„Ist schon gut“, unterbrach Prof. Gabriel die Lernschwester, „ich komme schon. Wir wollen ja die alte Dame nicht enttäuschen.

Maria Gruber, die alte Frau mit den hochgesteckten, weißen Haaren und den Lachfältchen um den Mund, war am Abend mit Verdacht auf Schenkelhalsbruch in die Donauklinik eingeliefert worden.

Den ganzen Tag hatte sie zusammengekauert in der Küche gelegen und hatte sich nicht bewegen können. Zu sehr hatten sie die Schmerzen gelähmt, die sie bei dem Sturz erlitten hatte.

Sie war am frühen Morgen beim Aufbrühen des Kaffees ausgerutscht und hatte sich nirgendwo festhalten können. Die scharfe Kante des Küchenschrankes hatte mit voller Wucht ihren Kopf gestreift, dann war sie auf den harten Steinboden gefallen.

Zunächst mußte sie bewußtlos gewesen sein. Denn als sie die Augen aufgeschlagen hatte, war es bereits zehn Uhr gewesen. Sie hatte mehrmals versucht aufzustehen. Aber jedes Mal ohne Erfolg. Der linke Oberschenkel und ihre Hüfte hatten sie so sehr geschmerzt, daß sie immer wieder hatte aufgeben müssen. So hatte sie stundenlang auf dem Küchenboden gelegen und angsterfüllt auf Rettung gewartet.

„Hallo, hallo“, hatte sie verzweifelt gerufen, „ist denn niemand da? Kann mir keiner helfen?“

Aber ihre Stimme war bereits so kraftlos gewesen, daß sie nicht einmal bis ins Treppenhaus hatte dringen können.

Glücklicherweise war ihre Tochter am späten Nachmittag in die Stadt gefahren und hatte sich überlegt, rasch bei ihrer Mutter in Kumpfmühl vorbeizuschauen. Da sie einen zweiten Haustürschlüssel dabei hatte, konnte sie die Wohnung öffnen. Dort hatte sie dann die völlig entkräftete Frau auf dem Küchenboden entdeckt.

Prof. Gabriel war inzwischen auf der Orthopädie angelangt und betrat Frau Grubers Zimmer.
„Was machen Sie denn bloß für Sachen?“, sagte er freundlich und stellte sich vor.
Frau Gruber hatte sich mittlerweile schon etwas von ihrem Schock erholt.
„Was ich mache, Herr Professor? Nichts! Ich liege hier nutzlos herum, weil ich Esel nämlich hingefallen

bin. Und jetzt kann ich mich kaum mehr bewegen.“
Prof. Gabriel ließ sich von Lernschwester Bibi kurz die wichtigsten Eckdaten der Patientin nennen und den

Unfallhergang schildern. Dann gab er Frau Gruber die Hand und sagte:
„Sie sind eine sehr mutige Frau.“
„Wie meinen Sie das, Herr Professor?“, krächzte Frau Gruber und räusperte sich.
„Nun ja, wie ich höre, sind Sie schon über achtzig und versorgen sich immer noch allein.“
„Aber sicher doch“, erwiderte Frau Gruber ein bißchen stolz, „man tut halt, was man kann. Meine Tochter

hat mir ja schon längst angeboten, raus nach Sinzing zu ihr zu ziehen. Aber wissen Sie, ich möchte so lange wie möglich in meinen eigenen vier Wänden bleiben. Einen alten Baum verpflanzt man halt nicht so leicht.“

„Das verstehe ich nur allzu gut“, sagte der Professor einfühlsam. „Ich habe vollstes Verständnis dafür, wenn ältere Menschen sich ihre Selbständigkeit bewahren möchten. Und so lange man einigermaßen fit ist, ist das ja auch kein Problem. Niemand würde Ihnen da Vorschriften machen wollen. Aber jetzt stellen Sie sich mal vor, Ihre Tochter hätte Sie nicht gefunden. Sie hätten an Entkräftung sterben können.“

„Hätte ich das wirklich?“
„Um ehrlich zu sein, standen Ihre Chancen zu überleben gar nicht gut.“
„Ja dann…“ – Frau Gruber hielt erschrocken inne.
„Dann wäre ich vielleicht jetzt schon nicht mehr am Leben!“, flüsterte sie mit bebender Stimme. „Was soll

ich denn nur tun, Herr Professor? Wie soll man sich denn als alter Mensch verhalten?“
Prof. Gabriel überlegte, wie er der Frau am besten helfen könnte.
„Als erstes“, sagte er schließlich, „werden wir Sie in der Donauklinik wieder auf die Beine stellen. Das

kann vielleicht ein paar Wochen dauern, aber hinterher dürften Sie durchaus wieder in der Lage sein, ein ganz normales Leben zu führen.“

Er bemerkte, wie sich Frau Grubers Gesichtszüge allmählich entspannten.
„Zweitens aber“, fuhr er fort, „müssen Sie mir versprechen, daß Sie nach Ihrer Entlassung aus der Klinik

eines dieser Hausnotrufgeräte in Ihrer Wohnung aufstellen lassen. Haben Sie verstanden?“
„Ein Hausnot-was?“
„Ein Hausnotrufgerät“, wiederholte Prof. Gabriel mit Nachdruck. „Mein Kollege Dr. Penninger wird Sie

morgen darüber aufklären. Dieses Gerät können Sie sich nämlich ohne großen Aufwand von der Johanniter Unfallhilfe an ihre Telefonbuchse anschließen lassen. Es ist etwa so groß wie ein Anrufbeantworter und kinderleicht zu bedienen. Sollten Sie dann mal wieder beim Kaffeekochen ausrutschen oder sonstwie in eine Notlage geraten, dann drücken Sie nur einen Knopf, den Sie am Körper tragen, und wenig später kommt Hilfe.“

„Und das gibt es wirklich, Herr Professor?“

„Worauf Sie sich verlassen können, liebe Frau Gruber. Sie können also, wenn es Ihr Gesundheitszustand zuläßt, getrost zu Hause wohnen bleiben.“

Die alte Frau war überglücklich über diese Nachricht. Dankbar drückte Sie dem Professor die Hand.
Und Prof. Gabriel hatte sogar noch eine Überraschung für seine Patientin parat.
„Kochen Sie eigentlich gern, Frau Gruber?“, fragte er die alte Dame.
„Ach, Herr Professor“, war die Antwort, „früher habe ich gerne und gut gekocht. Aber seit mein Mann

gestorben ist, macht es mir eigentlich keinen großen Spaß mehr. Es ist mir auch manchmal eine richtige Last. Immer einkaufen gehen, in der Küche stehen. Oft lasse ich das Mittagessen ganz einfach ausfallen und esse ein paar Kekse.“

Prof. Gabriel warf einen Blick in die Patientenakte, dann schüttelte er den Kopf.

„Heiliger Strohsack“, rief er mit strenger Stimme aus, „Sie sind schon ein rechter Sturkopf. Sie müssen sich doch anständig ernähren.

Ihre Blutwerte sind nämlich alles andere als rosig. Ja, Sie haben geradezu Mangelerscheinungen. Ist Ihnen das bewußt?“

„Was soll ich denn machen, Herr Professor“, wehrte sich Frau Gruber, „ich kann doch nicht von meiner Tochter verlangen, mir jeden Tag das Mittagessen von Sinzing hierher nach Regensburg zu bringen.“

„Nein, das nicht. Aber es gibt doch mittlerweile phantastische Angebote. Der Malteser Hilfsdienst beispielsweise liefert Ihnen Mahlzeiten direkt ins Haus, sogar am Wochenende.“

„Am Wochenende auch?“ Frau Gruber strahlte über’s ganze Gesicht. „Das ist ja großartig! Das heißt, ich kann sonntags gemütlich in die Kirche hatschen, und wenn ich nach Hause komme, stellt mir jemand das Essen fertig auf den Tisch?“

„Genauso ist es“, bestätigte der Professor. Dann zwinkerte er Frau Gruber zu und versprach, sie am anderen Tag wieder zu besuchen. Er wollte gerade das Zimmer verlassen, als Frau Gruber ihn nochmal zurückhielt.

„Machen die denn auch saures Lüngerl?“, fragte sie mit einem schelmischen Grinsen.
Prof. Gabriel zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß nicht genau, ob es ausgerechnet Lüngerl gibt“, sagte er, „aber soviel ich weiß, können Sie gratis

probeessen und dürfen dann unter siebzig verschiedenen Gerichten aus- wählen. A la carte, sozusagen.“ Frau Gruber nickte begeistert und ließ sich die Worte des Professors auf der Zunge zergehen.
‚A la carte‘, wiederholte Sie lächelnd, „à la carte…“

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